Ohne Balance – Umweltabkommen und Handelsrecht.

Von Tilman Santarius

Erschienen als: Santarius, Tilman: Ohne Balance – Umweltabkommen und Handelsrecht. In: Engelhardt, Marc/ Steigenberger, Markus (Hrsg.): Die Umwelt in der Globalisierungsfalle. Das Buch zum Kongress McPlanet.com von Attac, BUND und Greenpeace in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung und dem Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie. Berlin, 2003, S. 180-185.

19. Juni 2003, Genf, WTO. Ohne Erfolg mussten die Gespräche zwischen den USA und der Europäischen Kommission über genetisch veränderte Organismen abgebrochen werden. Nun wird der von den USA angestrengte Streitfall dem Streitschlichtungsorgan der WTO überantwortet, und damit soll die WTO entscheiden. Thema ist das seit mehreren Jahren bestehende europäische Moratorium zur Zulassung genetisch veränderter Organismen (Genetically Modified Organisms; GMO), welches der Agrarindustrie der USA nach ihren Angaben jährlich einige hunderte Millionen Dollar Umsätze vorenthält. Im Mai diesen Jahres klagten die USA darauf hin gegen die verwehrte Marktzulassung als ein „nicht-tarifäres Handelshemmnis“, welches sie gemäß WTO-Recht für rechtswidrig erachten. Die EU argumentiert hingegen, dass die potentiellen Risiken der Verbreitung und des Anbaus von GMOs nicht gesichert sind und eine Marktzulassung daher nicht erfolgen sollte.

Was zunächst keinen Bezug zum Konfliktverhältnis zwischen multilateralen Umweltabkommen und Welthandelsrecht ahnen lässt, ist tatsächlich ein aktuelles Beispiel für die mangelnde Balance zwischen beiden Regimen. Denn Importverbote für GMOs, bei denen negative Umwelt- und Gesundheitseffekte nicht wissenschaftlich ausgeschlossen werden können, sind das politische Kernziel des Protokolls über Biologische Sicherheit. Just eine Woche vor den Gesprächen zwischen den USA und der EU im Juni in Genf wurde bekannt, dass das Protokoll im September 2003 in Kraft treten wird. In Zukunft könnten dann die USA, die das Protokoll strikt ablehnen und es nicht ratifiziert haben, vor der WTO nicht mehr nur gegen Zulassungsbeschränkungen von GMOs einzelner Länder klagen, sondern gegen die Provisionen des Protokolls über Biologische Sicherheit.

Grundsätzlich stehen internationales Umwelt- und Handelsrecht völkerrechtlich auf gleicher Ebene. Keines ist dem anderen übergeordnet. Welches Recht gilt aber, wenn etwa das Protokoll über Biologische Sicherheit Handelsbeschränkungen von GMOs explizit erlaubt – WTO-Recht hingegen Staaten zur Öffnung ihrer Märkte und zum Abbau von Handelsbarrieren verpflichtet? Und, allgemeiner gefragt: welches politische Ziel genießt Vorrang – die Gleichbehandlung aller Ressourcen und Produkte auf dem Markt oder die gewollte Benachteiligung einiger umweltschädlicher Produkte, etwa bestimmter gefährlicher Stoffe, hier GMOs? Im folgenden wird am Beispiel des Konfliktverhältnisses zwischen der WTO und dem Protokoll über Biologische Sicherheit entlang des Politikzyklus gezeigt, wie die WTO im allen Stadien- vom Agenda-setting bis hin zur Weiterentwicklung von Politiken – de facto politisch und rechtlich Vorrecht vor multilateralem Umweltrecht genießt. Von einer Balance zwischen WTO- und multilateralem Umweltrecht kann somit keine Rede sein.

Erstens: Agenda-setting. Bereits auf der Ebene von Werten und der Wichtigkeit, die bestimmten Themen beigemessen wird – also weit vor der konkreten Politikformulierung, besteht keine Balance zwischen Umwelt- und Welthandelsinteressen. Ökonomische Interessen genießen gegenüber Umweltinteressen in der Regel Priorität. Vor allem das neoliberale Paradigma des Freihandels hat nach wie vor eine große politische Autorität. Maßnahmen zur Einschränkung des Handels und zur Absicherung von Märkten, auch wenn diese aus gesundheits- oder umweltpolitischen Gründen erwogen werden, gelten schnell als politisch unpopulär und werden als ‚Ökoprotektionismus’ verunglimpft. Dies zeigt sich zum Beispiel daran, dass Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement sich im Streitfall über die Zulassung von GMOs klar hinter die Interessen der US-Agrarkonzerne und einen uneingeschränkten Freihandel stellte: „Ich fordere Europa nachdrücklich auf, sein faktisches Moratorium gegen genmanipulierte Produkte aufzugeben und seine Märkte für US-amerikanische Importe zu öffnen“.

Zweitens: Politikformulierung. Die Autorität des Freihandelsparadigmas und der WTO übt einen Druck auf die Verhandlungen multilateraler Umweltabkommen aus und kann deren Ausgestaltungsmöglichkeiten dadurch bereits während der Politikformulierung einschränken (chilling effect). So wurde während der Verhandlungen des Protokolls über Biologische Sicherheit eine Klausel in deren Präambel aufgenommen, wonach im Streitfall dieses Abkommen anderen multilateralen Abkommen nicht übergeordnet werden dürfe. Die USA, auf deren Druck hin diese Klausel entstanden ist, zielten damit auf eine Bevorteilung der WTO-Abkommen. Denn das Protokoll über Biologische Sicherheit erlaubt die aktive Anwendung des Vorsorgeprinzips, insofern bei plausiblen, potentiellen Risiken von GMOs auch ohne wissenschaftliche Belege ein Importverbot ausgesprochen werden darf. In den Abkommen der WTO hingegen werden Importrestriktionen bei anhaltend fehlender wissenschaftlicher Evidenz ausgeschlossen. Damit verweigert die WTO auch die Anwendung des Vorsorgeprinzips. Der so genannte chilling effect, das heißt die Behinderung strikten Umweltrechts durch die Autorität bestehender WTO-Regeln, kann somit bereits in der Phase der Politikformulierung verhindern, das Umweltabkommen und die WTO eine Balance erzielen. Denn nicht Umweltziele oder das Vorsorgeprinzip sondern die WTO-Regeln gelten als das Maß aller politischen Dinge. Selbst in der Abschlusserklärung des Weltgipfels für Nachhaltige Entwicklung in Johannisburg 2002 konnte nur in letzter Minute ein Halbsatz abgewendet werden, der vorsah, dass die formulierten Ziele in Einklang mit WTO-Recht zu stehen hätten.

Drittens: Implementierung. Die WTO verfügt über eine strenges Streitschlichtungsverfahren und über harte Sanktionsmechanismen, welche die Umsetzung ihrer Normen garantieren. Dem gegenüber sind Umweltabkommen eher ‚zahnlos’ und können die Umsetzung ihrer Ziele nur wesentlich schlechter gewährleisten. Das Streitschlichtungsorgan der WTO ist tatsächlich das effektivste, welches je in völkerrechtlichen Regimen umgesetzt wurde. Die Rechtsentscheide des Streitschlichtungsorgan sind deswegen so wirkungsmächtig, weil Verstöße gegen WTO-Recht durch Vergeltungsmaßnahmen auf beliebige Güter oder Dienstleistungen geahndet werden dürfen. Damit können die vom Streitschlichtungsorgan autorisierten Sanktionen einen unmittelbaren und besonders empfindlichen Einfluss auf die Wirtschaft eines Staates ausüben. Im Gegensatz dazu verfügen multilaterale Umweltabkommen entweder nur über politisch schwache Streitschlichtungsinstanzen oder setzen auf die ‚weiche Variante’ so genannter Non-compliance-Mechanismen. Diese sollen Staaten in erster Linie helfen, ihre Pflichten zu erfüllen. Das Protokoll über Biologische Sicherheit enthält lediglich eine Pflicht zur wechselseitigen Information zwischen Ländern über den Export von GMOs. Sollte ein Staat GMOs ohne vorherige Information oder den Nachweis ihrer Gefahrlosigkeit dennoch exportieren, sieht das Protokoll jedoch keinerlei Sanktionen vor. Wie in der WTO würden sich vielfach auch in Umweltabkommen Handelsbeschränkungen als die wirkungsmächtigsten Maßnahmen zur Durchsetzung ihrer Ziele erweisen. Allerdings werden gerade diese Maßnahmen durch WTO-Recht bedroht – sei es durch den erwähnten chilling effect bereits bei ihrer Politikformulierung oder bei ihrem Vollzug, wie der nächste Abschnitt zeigen wird.

Viertens: Überwachung von Politiken und Streitschlichtung. Kommt es schließlich zu einem Konflikt zwischen einem multilateralen Umweltabkommen und der WTO, werden all jene Konfliktfälle, die sich als kritisch erweisen , vom Streitschlichtungsorgan der WTO entschieden. Denn das Dispute Settlement Understanding (DSU) der WTO verpflichtet ihre Mitglieds¬staaten dazu, alle handelsrelevanten Konflikte vor dem Streitschlichtungsorgan der WTO aus zu tragen. Auch wenn die USA Signatarstaat des Protokolls über Biologische Sicherheit wären, würde der jetzige Streitfall mit großer Wahrscheinlichkeit daher der WTO überantwortet werden. Damit entscheidet dieses in ihrem Dienst stehende Organ faktisch über die Legitimität von Politiken und Maßnahmen, die in Umweltabkommen vorgesehen sind oder für ihre Zielerreichung notwendig erscheinen. Dies ist aus umweltpolitischer Sicht strikt ab zu lehnen und lässt eine Balance zwischen Umwelt- und Handelsrecht im Streitfall fragwürdig werden. Denn das Streitschlichtungsorgan der WTO soll Konfliktfälle nur im Kontext der WTO-Abkommen vor nehmen (Art. 3 DSU) und die Panels des Streitschlichtungsorgans und die Mitglieder des Berufungsgerichts der WTO nur mit Handelsexperten besetzen (Art. 8 und 17 DSU). Bei alldem sieht sich der DSB harscher Kritik ob der geringen Transparenz und demokratischen Legitimation des Verfahrens ausgesetzt.

Fünftens: Evaluation und Weiterentwicklung von Politiken. Da es noch nie zu einem direkten Streitfall zwischen einem multilateralen Umweltabkommen und der WTO kam, ist das Verhältnis bis heute ungeklärt. Nicht zuletzt der Streit über GMOs zeigt jedoch, dass solche Fälle in der Zukunft wahrscheinlich sind. Daher wird seit mehr als zehn Jahren über eine Klarstellung des Verhältnisses von multilateralen Umweltabkommen zur WTO diskutiert. In den aktuellen Verhandlungen der WTO wurde mit § 31 der Doha Deklaration eine Klärung des Verhältnisses in eigener Vollmacht der WTO-Ministerkonferenz vereinbart. Dies bestätigt erneut die politische Priorität der Welthandels- gegenüber der Weltumweltpolitik. Warum wird innerhalb der WTO über die Anerkennung von multilateralen Umweltabkommen entschieden – und nicht innerhalb der Vereinten Nationen oder in Abstimmung mit UNEP und den Ministerkonferenzen der Umweltabkommen? Dabei schützt das Verhandlungsmandat von § 31 WTO-Rechte indem es bereits vorwegnimmt, dass es nicht zu einer Einschränkung der Rechte und Pflichten eines solchen Mitgliedsstaats der WTO kommen dürfe, der nicht auch Mitglied des betroffenen multilateralen Umweltabkommen ist. Die Verhandlungen bergen zudem die Gefahr, das die WTO-Ministerkonferenz eine Definition von zulässigen und unzulässigen umweltpolitischen Maßnahmen vornimmt und dadurch Beschlüsse, die auf den Ministerkonferenzen der Umweltabkommen getroffen wurden, in Frage stellt bzw. hinfällig werden lässt. Beispielsweise könnte konstatiert werden, dass Importrestriktionen von GMOs nur dann anerkannt werden, wenn sie mit wissenschaftlichen Beweisen ihrer Umwelt- und Gesundheitsgefahren begründet werden können. Damit würde die Anwendung des Vorsorgeprinzips als umweltpolitischem Kernprinzip und die Umsetzung des Protokolls für Biologische Sicherheit gefährdet.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass von einer Balance zwischen Umwelt- und Handelsrecht derzeit keine Rede sein kann. Um diese zu erzielen, müssten einerseits Umweltinstitutionen aufgewertet und Umweltinteressen eine größere Priorität eingeräumt werden. Dies könnte etwa über eine Stärkung ihrer Streitschlichtungsinstanzen sowie über eine bessere Vernetzung und Zusammenarbeit bei der Organisation der mittlerweile über 250 multilateralen Umweltabkommen erzielt werden. Andererseits müsste der politische Handlungsspielraum der WTO eingegrenzt werden. Dabei sollte insbesondere das Mandat des Streitschlichtungsorgans beschränkt werden sowie das Verfahren der Streitschlichtung transparenter, partizipativer und gegenüber anderem relevanten internationalen Recht offener gestaltet werden. Schließlich sollte der Informationsfluss und der Austausch zwischen Umwelt- und Handelsinstitutionen verbessert werden. Dafür müssen auf den Ministerkonferenzen von Umweltabkommen und der WTO politisch-rechtliche Prozesse vereinbart werden, die im Streitfall zwischen widerstreitenden Werten, unterschiedlichen Logiken der beiden Regime und konfligierenden Politiken zu vermitteln versuchen. Für die Prozesse müssten einerseits die beteiligten Institutionen definiert und andererseits die Zuständigkeiten der WTO auf der einen Seite und der Umweltinstitutionen auf der anderen klar abgegrenzt werden. Die Prozesse sollten im Rahmen der Vereinten Nationen verankert werden und bei Bedarf eine neutrale, dritte Streitschlichtungsinstanz involvieren.

Die damit einhergehende Begrenzung der politischen Reichweite der WTO bedeutet eine Fokussierung der WTO auf ihr handels¬politisches Mandat. Sie führt zur Entschärfung von Konflikten zwischen multilateralen Umweltabkommen und der WTO und verhindert damit den Eintritt eines Streitfalls. Sie könnte ferner den von der WTO ausgehenden chilling effect reduzieren, da politische Entscheidungsträger anderer multi¬lateraler Abkommen nicht mehr vor dem Hintergrund in Verhandlung treten, dass von ihnen beschlossene politische Maßnahmen im Konfliktfall Gegenstand des WTO-Rechts werden. Allein die Aufgabe des Alleinanspruchs der WTO zur Lösung von Konflikten, die Handelsrecht tangieren, trägt damit zu einer größeren Balance zwischen Institutionen in der globalen politischen Arena bei. Kommt es dennoch zum Streitfall, käme Umweltinstitutionen und der WTO in den politisch-rechtlichen Prozessen zur Lösung der Konflikte eine gleichwertige Rolle zu. Die Prozesse würden zu einer horizontalen Verteilung von Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten auf jeweils jene Institutionen führen, die am besten für die Bearbeitung eines (Teil-) Problems geeignet sind. Die Verknüpfung der verschiedenen Kompetenzen, Erfahrungen und Strukturen der Institutionen kann dabei eine größere Qualität bei der Entscheidungsfindung mit sich bringen und die soziale Akzeptanz des Ergebnisses erhöhen. – Und nicht zuletzt kann die Stärkung von Umwelt- gegenüber Handelbelangen unserem (Mc)Planeten ökologische Belastungen ersparen und dem Abbau zwischenstaatlicher Konflikte förderlich sein