Die transnationale Verbraucherklasse

Von Wolfgang Sachs und Tilman Santarius

Erschienen als: Sachs, Wolfgang/ Santarius, Tilman: Die transnationale Verbraucherklasse. In: Engelhardt, Marc/Steigenberger, Markus (Hrsg.): Konsum. Globalisierung. Umwelt. McPlanet.com – Das Buch zum zweiten Kongress von Attac, BUND und Greenpeace in Kooperation mit der Heinrich Böll Stiftung und dem Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie. Berlin, 2005.

Es war im Jahre 1928, dass Mohandas Gandhi eine jener Intuitionen formulierte, die sein Denken ins 21. Jahrhundert hineinragen lassen. Er schrieb: „Gott verbiete, dass Indien jemals zu einer Industrialisierung nach dem Muster des Westens schreitet. Der wirtschaftliche Imperialismus eines einzelnen winzigen Insel-Königreichs (England) hält heute die Welt in Ketten. Falls eine ganze Nation mit 300 Mio. Einwohnern auf eine ähnliche ökonomische Ausbeutung setzt, würde die Welt kahl gefressen wie durch eine Heuschreckenplage.“ Fast 80 Jahre später hat diese Feststellung nichts an Relevanz verloren. Im Gegenteil, sie hat an Gewicht gewonnen, weil inzwischen nicht mehr 300, sondern 1000 Mio. zur Nachahmung Englands schreiten. Gandhi ahnte, dass die Würde Indiens nicht auf dem Wirtschaftsniveau Englands wiederhergestellt werden kann, und ebenso wenig die Würde Chinas oder Indonesiens. Eine Vervielfachung Englands würde eine Vervielfachung kolonialer Ausplünderung nach sich ziehen, und zwar soweit, dass die Lebenshülle des Planeten in Mitleidenschaft gezogen würde. Die bio-physischen Grenzen für eine Verbreitung der Industriezivilisation auf dem Planeten, die in den letzten dreißig Jahren erkennbar geworden sind, haben Gandhis Ahnung eindrucksvoll bestätigt.

Das Dilemma der Aufholjagd

Darin liegt das Dilemma der gegenwärtigen Aufholjagd, besonders in Asien. Es mag umstritten sein, ob die Wachstumssprünge in China und Indien international ein Mehr an sozialem Ausgleich und national ein Weniger an Armut bringen, doch es ist sicher, dass sie den Verschleiß der Biosphäre vorantreiben. China ist, in absoluten Zahlen, mittlerweile zum zweitgrößten Emittenten von Kohlendioxid in der Welt nach den USA wie auch zum zweitgrößtem Ölimporteur aufgestiegen. Noch stärker macht sich neben der Belastung globaler Ressourcensysteme der Druck auf lokale Lebensräume bemerkbar: Luftkranke Städte, schrumpfende Ackerflächen, schwindende Wasserbestände sind das Wetterleuchten einer heranziehenden Naturkrise. Die jährlichen wirtschaftlichen Kosten von Umweltschäden im Gefolge von Wirtschaftswachstum wurden für die 90er Jahren immerhin auf die Größenordnung von 13 Prozent des chinesischen Inlandsprodukts geschätzt (Smil/Mao 1998). Jahr für Jahr wäre dann die Einbuße an Natur größer als der Zuwachs des Wirtschaftsprodukts! Zwar sticht China durch die Größe seiner Bevölkerung hervor; aber im Prinzip sind ähnliche Tendenzen in Brasilien, Indien, Malaysia, Mexiko, Indonesien und anderen Schwellenländern zu verzeichnen. Bei Zusammensetzung und Wirkungsgrad des überlieferten Wirtschaftswachstums führt der Ausstieg aus Armut und Machtlosigkeit geradewegs zum Einstieg in Übernutzung und Überausbeutung. Es winkt mehr Einkommen, in Wirklichkeit aber doch nur ein größerer Anteil an der Raubökonomie.

Bei aller Aufmerksamkeit für den Aufstieg der Schwellenländer, und darunter besonders von China und Indien, kann aber nicht verborgen bleiben, dass ein Wirtschaftsaufschwung kaum jemals das ganze Land und die ganze Bevölkerung erfasst. In der Regel konzentriert er sich auf zentrale Stadtregionen und mehr oder weniger ausgedehnte Industriezonen. Das ist kein Zufall, sondern Teil des Systems. Unter den Bedingungen transnationaler Arbeitsteilung nehmen nicht Länder am globalen Wettbewerb teil und auch nicht ihre Bevölkerung als ganze, sondern nur bestimmte Orte und Zonen mit einem Teil der Bevölkerung, und auch das nur solange es die Wettbewerbsbedingungen erlauben (Scholz 2002). Denn die erwünschte Arbeitsteilung hat sich weit über nationale Grenzen hinaus aufgefächert und verbindet über die Erde verstreute Orte miteinander. Ungezählte Produktionsketten durchziehen kreuz und quer den globalen Raum. Transport- und Kommunikationstechnik erlauben es, auch räumlich weit aufgespannte Produktions-Netzwerke zu koordinieren und zu kontrollieren. Vor diesem Hintergrund lässt sich der Erfolg der Schwellenländer nicht als Aufschwung von Nationen lesen, sondern als Aufschwung von Regionalräumen oder gar nur einzelnen Orten, die für globale Investoren günstige Merkmale aufweisen. Die Wachstumsregionen sind so in erster Linie als Knotenpunkte globaler Produktionsnetze und nicht als Vorreiter einer Volkswirtschaft zu betrachten. Dass Shanghai und Shenzhen in China, oder Bombay und Bangalore in Indien liegen, ist in dieser Perspektive eher zweitrangig; sie sind in ihren florierenden Teilen vor allem Standorte für Grenzen übergreifende Prozesse der Kapitalbildung.

Polarisierung im Ressourcenverbrauch

Was auch in den Entwicklungsländer die besser Gestellten von den Habenichtsen trennt, ist ihr Ressourcenverbrauch, insbesondere die Art des Energiekonsums. Die Reichen stützen sich auf ganz andere Energieträger als die Armen. Diese sammeln Reisig, Äste oder trockenen Dung, nur in Stadtgebieten haben sie gelegentlich Zugang zu Petroleum oder Elektrizität. Ganz anders die Wohlhabenden: Sie nutzen Treibstoffe und Elektrizität. So lassen sich die verschiedenen Energieträger auf einer Energieleiter anordnen, je nach der Einkommensstufe von Haushalten (Goldemberg 2000). Für den Nutzungszweck Kochen zum Beispiel finden sich auf den unteren Stufen der Leiter Holz, Dung und sonstige Biomasse, auf der mittleren Stufe Holzkohle, Kohle und Kerosin, und auf den höheren Stufen Strom, Flüssiggas und Benzin. Die Energieleiter korrespondiert mit der sozialen Schichtung in vielen Ländern des Südens.

Summarisch gesehen nutzen Angehörige der oberen Mittelklasse in den Südländern soviel Energie wie Gleichgestellte in vielen Industrieländern. Die Ungleichverteilung im Energieverbrauch, wie sie auf Weltebene zwischen Industrie- und Entwicklungsländern besteht, wiederholt sich in vergleichbarer Spreizung in den Entwicklungsländern selbst zwischen der Verbraucherklasse und der Mehrheit der Bevölkerung. Allerdings liegt der Verbrauchsdurchschnitt der oberen Mittelklasse in den Entwicklungsländern im allgemeinen niedriger als in den Industrieländern. Dennoch gilt: nach der Expansion der Verbraucherklassen im Norden besonders in den Jahren 1950-1990, formiert sich nunmehr in den Schwellenländer eine mehr oder weniger große Verbraucherklasse, die in der Lage, sich einen weitaus größeren Anteil der Naturressourcen zu sichern als die Mehrheit der Bevölkerung.

Es fallen schließlich auch dem flüchtigen Besucher in den Metropolen des Südens die Quartiere des Wohlstands ins Auge: glitzernde Bürotürme, Einkaufsgalerien mit ihren Luxusboutiquen, abgeschirmte Wohnviertel mit Villen in manikürten Gärten, vom Strom der Mitsubishi und Mercedes entlang der Zugkarren und fliegenden Händler ganz zu schweigen. Sandton in Johannesburg, Alphaville in Sao Paulo, Ksour in Marrakech oder Sukhumvit in Bangkok sind Inseln des Reichtums inmitten eines Meeres an einfachen Häusern und ärmlichen Hütten. Die räumliche Fragmentierung der Städte macht die soziale Polarisierung anschaulich; sie demonstriert, wie sehr sich die Ton angebenden Klassen in ihrem Lebensstil von den gewöhnlichen Bürgern entfernt haben.

Die Verbraucherklasse – wie groß und wo?

Wie groß ist die Verbraucherklasse in den einzelnen Ländern? Um ihr grobes statistisches Profil zu zu ermitteln, soll ein Einkommen von US-Dollar 7.000 (in Kaufkraftparität) pro Kopf im Jahr als Schwelle für die Zugehörigkeit zur Verbraucherklasse angesetzt werden. Immerhin entspricht diese Summe ungefähr der offiziellen Armutsgrenze in Westeuropa, so dass damit die transnationale Verbraucherklasse als eine Gruppe umschrieben werden kann, die wenigstens über ein Einkommen der unteren Mittelklasse Westeuropas verfügt. Mit diesem Vorgehen hat Matthew Bentley 816 Mio. neue Verbraucher errechnet (Bentley 2003). Sie gesellen sich zu den 912 Mio. etablierten Verbraucher in den Industrieländern, die allerdings im Durchschnitt über ein um ein Vielfaches höheres Einkommen verfügen. Spannt man ein weites Netz und definiert die Verbraucherklasse auf dieser Kaufkraftebene, dann umfasste sie schon im Jahr 2000 gut 1,7 Mrd. Menschen, mehr als ein Viertel der Weltbevölkerung.

Abbildung 1 zeigt eine Zusammenstellung der Länder mit der größten Zahl neuer Verbraucher bei der Einkommensschwelle von US-Dollar 7.000. Allein auf China und Indien entfällt ein Anteil von mehr als 20 Prozent der globalen Verbraucherklasse. Mit zusammen gerechnet 362 Mio. Menschen ist die Verbraucherklasse dieser beiden Länder größer als jene in ganz Westeuropa, allerdings bei beträchtlich tieferem Durchschnittseinkommen. Die Anteile der Verbraucherklasse an der Bevölkerung liegen beispielsweise in China bei 19 Prozent, in Brasilien bei 33 und in Russland bei 43 Prozent (Bentley 2003; Gardner et al. 2004, 44). Hält man sich vor Augen, dass ihr Anteil in Westeuropa 89 Prozent beträgt, braucht es nicht viel Phantasie, sich vorzustellen, welches Wachstumspotential hier zumindest den Zahlen nach vorliegt. Und gleichzeitig wird deutlich, wie in Zeiten der Globalisierung auch im Norden mehr als jeder Zehnte vom Wohlstand der transnationalen Verbraucherklasse ausgeschlossen ist.

Die transnationale Verbraucherklasse ist also, ganz grob gesehen, etwa zur Hälfte jeweils im Süden wie im Norden beheimatet. Ihr gehören jene Gruppen an, die sich trotz unterschiedlicher Hautfarbe in ihrem Lebensstil überall gleichen: Sie leben immer weniger landestypisch, sondern werden in Leitbildern und Verhalten den gleich gelagerten Klassen in anderen Nationen ähnlich. Die Anwalt-Familie in Caracas hat in vieler Hinsicht mehr mit einer Unternehmer-Familie in Beijing gemein als jede von ihnen mit ihren Landsleuten in den Berggebieten. Mit anderen Worten: Sie sind nicht „venezolanisch“ oder „chinesisch“, vielmehr die örtlichen Repräsentanten einer transnationalen Verbraucherklasse. Sie shoppen in ähnlichen Einkaufscenters, kaufen High-Tech-Elektronik, sehen ähnliche Filme und TV-Serien, verwandeln sich hin und wieder in Touristen, und verfügen über das entscheidende Medium der Angleichung: Geld. Sie sind Teil eines transnationalen Wirtschaftskomplexes, der seine Absatzmärkte mittlerweile in globalem Maßstab entwickelt. Es ist Nokia, das sie überall mit Mobiltelefonen versorgt, und Toyota mit Autos, Sony mit Fernsehern, Siemens mit Kühlschränken, Burger King mit Schnell-Imbiss und Time-Warner mit Videos. Werbung und Kredite bahnen den Weg. Angebot und Nachfrage verstärken dabei einander: Es sind einerseits vor allem transnationale Unternehmen, welche konsumintensive Lebensstile in den Markt drücken, und es sind andererseits die zu Geld gekommenen Menschen, welche auf einen höheren Lebensstandard brennen. In der Folge läuft beides darauf hinaus, dass diese Expansion das Gewicht enorm verstärkt, mit dem die Weltwirtschaft auf der Biosphäre lastet.

Gerechtigkeitsunfähiger Wohlstand

Drei Klassen von Verbrauchsgütern sind es vor allem, die die Energie-, Material- und Flächen-Verbräuche der Verbraucherklasse in die Höhe treiben: der Fleischverbrauch, die Elektrogeräte und der Autobesitz (Myers/Kent 2003). Fleischproduktion aus Tiermast erfordert in der Regel Getreide, und Getreide erfordert Ackerfläche und Wasser. Allein von 1990 bis 2000 nahm die Menge des an Vieh verfütterten Getreides in China um 31 Prozent, in Malaysia um 52 und in Indonesien um 63 Prozent zu (Myers/Kent 2003). Der Wasserverbrauch für die Bewässerung der bei der Tiermast eingesetzten Getreidesorten zehrt an den Oberflächengewässern und am Grundwasser; um eine Tonne Getreide zu produzieren, sind bis zu 1000 Tonnen Wasser und für eine Tonne Rindfleisch wiederum 16.000 Tonnen Wasser erforderlich (Hoekstra 2003). Nicht selten richtet sich, wenn Ackerfläche und Wasser knapp werden, die Nachfrage nach Getreide, auf den Weltmarkt und treibt zum Schaden der ärmeren Länder die Nahrungspreise hoch; immerhin haben die neuen Verbraucherländer bei den weltweiten Getreideimporten bereits einen Anteil von fast 40 Prozent erreicht. Weiter: Die ganze Palette der Elektrogeräte – vom Kühlschrank zur Klimaanlage, von der Waschmaschine zum Fernseher, von der Mikrowelle zum Computer – lässt den Verbrauch an Strom steigen, normalerweise erzeugt mit fossilen Brennstoffen. Im Jahre 2002 hatten schon 1,12 Mrd. Haushalte, in denen etwa drei Viertel der Weltbevölkerung leben, mindestens einen Fernsehapparat (Gardner et al. 2004, 47). Von ihnen können sich 31 Prozent mittels Kabelanschluss in den globalen Kreislauf fabrizierter Bilder einklinken und so die Güter kennen lernen, die sie erstreben. Und schließlich das Auto. Betrug die Zahl der Personenwagen in den neuen Verbraucherländern 1990 noch 62 Mio., so stieg sie bis 2000 auf 117 Mio. und erreichte damit einen Anteil von 21 Prozent an der globalen Flotte. Wenn sich die Wachstumsraten der 90er Jahre fortsetzen, dürfte sich die Autozahl bis 2010 noch einmal fast verdoppeln. Kein Wunder, dass so ziemlich alle Städte mit der höchsten Luftverschmutzung in der Welt in den Schwellenländern liegen, wie sie mittlerweile auch für zwei Fünftel der globalen CO2-Emissionen verantwortlich sind. Es zeigt sich: Im Ressourcenverzehr verbreitet sich die Lebensweise des Nordens über den Erde, und dessen Filialen im Süden konkurrieren inzwischen mit ihren Vorbildern um den globalen Umweltraum.

Vor diesem Hintergrund ist es hohe Zeit, das Wohlstandsmodell der Industriemoderne auf den Prüfstand zu stellen. Eine Wirtschaftsentwicklung konventionellen Stils, die einer wachsenden Weltbevölkerung insgesamt einen westlichen Lebensstandard bescheren möchte, wird ökologisch nicht durchzuhalten sein. Mehr Gerechtigkeit in dieser Welt ist auf dem Verbrauchsniveau der Industrieländer nicht zu erreichen. Die dafür benötigten Ressourcenmengen sind zu groß, zu teuer und zu zerstörerisch. Deswegen wird der Kickstart der Schwellenländer in die Industriemoderne voraussichtlich zu einer weiteren Marginalisierung der armen Länder und Zonen und damit zu globaler Apartheid führen, aber sie auch selbst gefährden. Schon heute zieht sich für Dutzende von Peripherieländern die Schlinge weiter zu, weil China mit seiner kolossalen Nachfrage die Weltmarktpreise für Getreide, Erdöl und Eisenerz nach oben drückt. Wer daher das Ziel nicht aus den Augen verlieren will, eine fairere und gerechtere Welt als heute herbeizuführen, wird jene Produktions- und Konsummuster auf den Prüfstand stellen, an die sich gegenwärtig die Wohlstandshoffnungen heften. Deshalb heißt Eintreten für globale Gerechtigkeit in einer ökologischen Perspektive nicht weniger, als das Wohlstandsmodell der Industriemoderne neu zu erfinden.

Dieser Text fasst Gedankengänge aus dem vom Wuppertal Institut verfassten Buch „Fair Future. Begrenzte Ressourcen und globale Gerechtigkeit“ (München: C.H.Beck, 2005) zusammen.

Literatur

Bentley, Matthew D. (2003): Sustainable Consumption: Ethics, National Indices and International Relations. Dissertation: American Graduate School of International Relations and Diplomacy. Paris

Gardner, Gary/Assadourian, Erik/Sarin, Radhia (2004): Zum gegenwärtigen Stand des Konsums. In: Worldwatch Institute (Hrsg.): Zur Lage der Welt 2004. Die Welt des Konsums. Münster, S. 39-68

Goldemberg, José (Hrsg.) (2000): World Energy Assessment: Energy and the Challenge of Sustainability. New York

Hoekstra, Arjen Y. (2003): Virtual Water Trade between Nations: A Global Mechanism affecting Regional Water Systems. IGBP Global Change News Letter, No.54

Myers, Norman/Kent, Jennifer (2004): The New Consumers. The Influence of Affluence on the Environment. Washington

Scholz, Fred (2002): Die Theorie der „fragmentierten Entwicklung“. In: Geographische Rundschau Jg. 54, Nr. 10, S. 6-11

Smil, Vaclav/Mao, Yushi (1998): The Economic Costs of China’s Environmental Degradation. Cambridge