Umrisse einer Architektur des Agrarhandels in Zeiten nach der WTO

Von Wolfgang Sachs und Tilman Santarius

Erschienen als: Sachs, Wolfgang/ Santarius, Tilman: Umrisse einer Architektur des Agrarhandels in Zeiten nach der WTO. In: Eins Entwicklungspolitik, Heft 12/2007, S. 39-41.

Auf englisch erschienen als: Sachs, Wolfgang/ Santarius, Tilman: Towards a New Architecture of Agricultural Trade in the World Market. In: Gottwald, Franz-Theo/ Ingensiep, Hans Werner/ Meinhardt, Marc (Hrsg.): Food Ethics. New York, 2010, S. 185-203.

Ein multilateraler Rahmen für den Welthandel ist unverzichtbar. Die WTO aber erfüllt in ihrer gegenwärtigen institutionellen Verfassung nicht die Anforderungen an ein solches Rahmenwerk. Folglich muss sich die WTO entweder selbst neu erfinden oder die Institutionalisierung von Handelsregeln anderen Einrichtungen im Rahmen der Vereinten Nationen überlassen. Es folgt eine Reihe von Vorschlägen, die eine neue Architektur des Agrarhandels skizziert. Diese Vorschläge stützen sich auf vorangegangene Überlegungen aus diesem Dokument und versuchen, Schlussfolgerungen zu ziehen.

Über Prinzipien

GATT und WTO stützen sich auf die Prinzipien der Meistbegünstigung und Inländerbehandlung, d. h., Konzepte, die sich aus dem generellen Diskriminierungsverbot ableiten. Unserer Ansicht nach ist die Nichtdiskriminierung weiterhin ein grundlegendes Prinzip, das allerdings mit dem Prinzip der demokratischen Souveränität im Widerstreit steht. Wir schlagen vor, die Meistbegünstigung aufrechtzuerhalten, aber zumindest in der Landwirtschaft die Regel der Inländerbehandlung aufzugeben. Zwar ist es im Sinne einer guten globalen Nachbarschaft, dass Länder an der Grenze nicht diskriminiert werden, aber das Inländerprinzip widerspricht dem Geist der demokratischen Selbstbestimmung, weil es Schutz oder Bevorzugung einheimischer Produzenten vor ausländischen Wettbewerbern verbietet. So gesehen stimmen wir mit den Ansichten überein, die 2004 im Entwurf für eine „Konvention für Ernährungssicherheit“ zum Ausdruck kamen: „Ernährungssouveränität ist das Recht der Völker und Gemeinwesen, ihre eigene Agrar- und Ernährungspolitik zugunsten einer nachhaltigen Erzeugung und Verteilung von Nahrungsmitteln zu bestimmen und umzusetzen. Tatsächlich entstammen die vorgeschlagenen Strategien zur Importregulierung dem Prinzip der demokratischen Souveränität; es ist nahezu unbegreiflich, wie man sie mit dem Inländerprinzip in Einklang bringen kann.

Auch der Begriff der „nicht tarifären Handelshemmnisse“ scheint kaum mit dem Prinzip der demokratischen Souveränität vereinbar zu sein. Das Konzept wurde beim Übergang von GATT zu WTO eingeführt; es hat zu gravierenden Eingriffen in die Subventionspolitik, das Patentrecht, grundlegende Dienstleistungen und Eigentumsrechte geführt und den Einfluss der Handelsvereinbarungen auf den Bereich der Innenpolitik erweitert. Das Gewicht, das man „nicht tarifären Handelshemmnissen“ beimisst, steht im Widerspruch zum Recht der Völker und Gemeinschaften, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln – also etwa ihre Bauern, geistiges Eigentum und Landrechte zu schützen –, wie es ihnen beliebt, und nicht, wie die Handelsliberalisierung es vorschreibt. Schon von „nicht tarifären Handelshemmnissen“ zu sprechen, ist eine grobe Vereinfachung: Hier werden komplexe und vielfältige politische Strukturen auf bloße Handelshemmnisse reduziert. Im Lichte des Prinzips der demokratischen Souveränität sollten deshalb die Regeln der Handelspolitik nicht mit der Innenpolitik interferieren, sondern sich lieber auf Fragen des Marktzugangs oder Qualitätsanforderungen für den internationalen Austausch konzentrieren.

Das Prinzip der demokratischen Souveränität ist allerdings begrenzt durch das Recht anderer Völker und Gemeinwesen auf ihre Souveränität. Mit anderen Worten, die Freiheit einer Nation endet da, wo die Freiheit einer anderen Nation beginnt. Daraus ergibt sich das Prinzip der extraterritorialen Verantwortung, d. h. Länder sind verantwortlich für die Folgen ihrer Politik jenseits ihrer Grenzen, durch die andere Länder gegebenenfalls Nachteile erleiden. Die offensichtlichsten Beispiele dafür sind Exportsubventionen, nationale Stützungsmaßnahmen mit Einfluss auf die Exportpreise, Lebensmittelhilfen usw., die auf internationalen und ausländischen Märkten zu Dumping führen. Aufgrund der extraterritorialen Verantwortung – und nicht um dem Vorwand zu folgen, gleiche Ausgangsvoraussetzungen schaffen zu wollen – gehören solche politische Maßnahmen abgeschafft.

Darüber hinaus wird das Prinzip der demokratischen Souveränität auch durch das Prinzip der Fairness begrenzt. Dieses versucht im Sinne einer ‚Systemischen Sonderbehandlung’ die drastischen Ungleichheiten zwischen den Ländern dieser Erde auszugleichen; ihm zufolge werden systematisch schwächere Nationen stärkeren gegenüber bevorzugt. Rechte und Pflichten müssen ungleich, d. h. gemäß den jeweiligen Bedürfnissen und Fähigkeiten, verteilt werden.

Und schließlich ist es eine Selbstverständlichkeit, dass eine neue multilaterale Institution zum Agrarhandel unter dem Dach der Vereinten Nationen und nicht außerhalb davon zu errichten wäre. Damit würden die Gründungsprinzipien der Vereinten Nationen auch für die Handelsinstitution gelten. Da die Erklärung der Menschenrechte inzwischen als Teil der Verfassung der Vereinten Nationen betrachtet werden kann, versteht sich von selbst, dass dem Prinzip der Menschenrechte auch im Rahmen der Gründung einer neuen Handelsinstitution ein hoher Stellenwert beizumessen wäre. Über das Ziel ökonomischer Effizienz, das derzeit alles bestimmende politische Ziel der WTO, würden die Prinzipien der Menschenrechte, der ökologischen Integrität, der Fairness und der ökonomischen Subsidiarität treten, die die allgemeingültigen politischen Ziele der neuen multilateralen Institution für den Agrarhandel bilden würden. Ökonomische Effizienz hingegen würde in den Hintergrund treten und zu einem unter vielen Mitteln werden, die es gibt, um mehr Arbeitsplätze zu schaffen und menschenwürdige Existenzgrundlagen zu sichern sowie Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit zu fördern.

Über Funktionen

Derzeitig übt die WTO im Großen und Ganzen drei Funktionen aus: sie bildet den Rahmen für Verhandlungen zwischen Regierungen, ist eine Organisation, die über Regeln entscheidet und verfügt über einen Streitschlichtungsmechanismus. Auch jede neue institutionelle Struktur muss diese Funktionen erfüllen; allerdings kommen noch einige Funktionen hinzu – während sich die Gesamtzielsetzung ebenfalls verändert. Gemäß den Überlegungen in diesem Dokument müssen mindestens drei Funktionen neu hinzukommen: die Kontrolle der internationalen Marktpreise durch einen auf Kooperation basierenden Mechanismus zum Angebotsmanagement, die Qualitätskontrolle der Handelsströme auf der Grundlage multilateraler Meta-Standards und die Überwachung des Wettbewerbs durch Anti-Kartell-Maßnahmen. Während gegenwärtig der Abbau von Zöllen und nicht tarifären Handelshemmnissen oberstes Ziel im Welthandel ist, um einen vereinigten globalen Markt zu schaffen, wird eine künftige Institution die Koordinierung der unterschiedlichen nationalen Interessen in den Mittelpunkt stellen. Ihr wichtigstes Ziel wird darin bestehen, den Handel zu managen und nicht zu deregulieren.

Eine solche neue Institution müsste zweckmäßigerweise aus mindestens fünf Abteilungen bestehen: einer Abteilung für Koordinierung, für Qualitätssicherung, für Preismanagement, für Kartellaufsicht und für Streitschlichtung.

Die herausragendste Aufgabe der Abteilung für Koordinierung ist die Abwägung nationaler Präferenzen und internationaler Interessen. Zunächst einmal sorgt die Abteilung dafür, dass der nationale politische Spielraum im Handel wiederhergestellt wird. Im weiteren Verlauf überwacht sie die internationalen Folgen nationaler Politiken, insbesondere im Hinblick auf mögliche schädliche Effekte für internationale und ausländische Märkte. So ist etwa die Koordinierungsabteilung die zuständige Stelle für das „Antidumping-Warnsystem“. In diesem Zusammenhang hat sie Disziplinarmaßnahmen festzulegen, die sicherstellen, dass die Ausübung der demokratischen Souveränität nicht mit den legitimen Interessen anderer Länder kollidiert. Deshalb wird das Mandat hier die Einrichtung der „Schlichtungsstelle für Standarsdstreitigkeiten“ vorsehen, eines Gremiums, das bei Streitigkeiten über Unvereinbarkeiten bei nationalen Qualitätsstandards vermittelt, bevor eine Beschwerde bei der Abteilung für Streitschlichtung vorgebracht wird, um so sicherzustellen, dass kein Land nationale Qualitätsstandards für eine versteckte Handelsdiskriminierung missbraucht. Außerdem unterstützt die Koordinationsabteilung die Verhandlungen über die „systemische Sonderbehandlung“, damit gewährleistet ist, dass schwächere Länder systematisch bevorzugt behandelt werden, und sie überwacht Handelsströme im Hinblick auf das Prinzip der Tauschgerechtigkeit.

Ziel der Abteilung für Qualitätssicherung ist es, auf globalen Märkten eine Qualitätsuntergrenze durchzusetzen. Insbesondere wirkt die Abteilung an Verhandlungen über Meta-Standards für die Festschreibung von Kriterien des Entwicklungsprozesses von nachhaltigen Prozess- und Produktionsstandards mit, die damit die Länder verpflichten, im Inland Standards festzulegen, um der Zerstörung von sozialen und ökologischen Gemeingütern Einhalt zu gebieten. Aus diesem Grund entwickelt die Qualitätssicherungsabteilung auch Monitoring- und Kontrollmechanismen. Darüber hinaus ist sie Sitz der „Fair-Handels-Kammern“, die Qualitätsstandards internationaler Geschäftsvereinbarungen entlang spezifischer Produktketten überwachen; die Genehmigung dieser Verträge durch die Ausschüsse wird Voraussetzung für Unternehmen sein, um am Welthandel teilnehmen zu dürfen. All diese Funktionen können nicht alleine von der handelspolitischen Organisation ausgefüllt werden; zusätzlich ist die Zusammenarbeit mit Unterorganisationen der Vereinten Nationen notwendig, wie etwa der UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO), dem UN-Umweltprogramm (UNEP), den entsprechenden multilateralen Umweltvereinbarungen sowie der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und schließlich Gremien wie dem neu einzurichtenden „Fonds für nachhaltige ländliche Entwicklung“, der an Landesgrenzen erzielte Erlöse aus Programmen für qualifizierten Marktzugang in Maßnahmen einbringt, mit denen armen Produzenten bei der Umstellung auf nachhaltige Produktionsmethoden geholfen wird. Darüber hinaus ist diese Abteilung auch auf die Konsultation und Partizipation von NGOs und Wirtschaftsverbänden angewiesen.

Die Aufgabe der Abteilung für Preismanagement besteht darin, die extremen Preisschwankungen auf dem Weltmarkt durch eine Steuerung des Angebots an Agrarprodukten in den Griff zu bekommen. Insbesondere unterstützt diese Abteilung die Verhandlungen über die multilaterale „Kooperationsvereinbarung zur Balancierung des weltweiten Angebots“, um die Produktionskapazitäten im Norden und unter den Agrarexporteuren im Süden zu steuern und allzu großen Ausschlägen in der Preisentwicklung entgegen zu wirken. Die Beobachtung der Preisschwankungen, Verhandlungen zwischen den betroffenen Partnern, Festlegung von Preisbändern und Identifizierung brauchbarer Instrumente zur Beeinflussung der Produktionskapazitäten fällt in den Zuständigkeitsbereich dieser Abteilung. Ferner arbeitet die Abteilung für Preismanagement mit der Abteilung für Qualitätssicherung zusammen, um faire Erzeugerpreise für „Fair-Handels-Verträge “ innerhalb von Produktketten zu gewährleisten.

Die Abteilung für Kartellaufsicht ist dafür zuständig, Verhandlungen über die Wettbewerbspolitik auf globaler Ebene zu begleiten. Insbesondere schreitet sie im Falle einer Marktkonzentration im Bereich der Betriebsmittelproduktion, Vertrieb, Groß- und Einzelhandel ein. Die Abteilung unterhält eine öffentlich zugängliche Datenbank mit Informationen zu Größe und Aktionsradius internationaler Unternehmen einschließlich der Fusionen und Aufkäufe. Mit der „Anti-Kartell-Aufsicht“ als Herzstück überwacht die Abteilung – ähnlich wie nationale Kartellämter – die Marktmacht von Konzernen, definiert Marktanteile, über die hinaus von Oligopolen auszugehen ist, setzt Maßnahmen um, um fairen Wettbewerbs auf Märkten zu sichern, und überprüft Fusionen und Unternehmensaufkäufe. Ihre Aktivitäten erfolgen in enger Zusammenarbeit mit rechtlichen Gremien wie dem Streitschlichtungsorgan oder einem Internationalen Gerichtshof für Handelsrecht.

Schließlich hat die Abteilung für Streitschlichtung die Aufgabe, Konflikte zwischen Mitgliedsstaaten zu schlichten und zwischen Mitgliedsstaaten und Dritten, wie etwa Konzernen und NGOs, zu vermitteln. Alles in allem wird diese Abteilung auch weiterhin Panels für Konflikte im Handel einsetzen, wie dies gegenwärtig im Rahmen der WTO geschieht. Wenn aber die Entscheidung eines dieser Panels nicht die Zustimmung aller Beteiligten findet, muss die darauffolgende Berufung an ein Gremium außerhalb dieser Einrichtung verlagert werden. Denn da das Streitschlichtungsorgan Entscheidungen über Konflikte zwischen sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Werten zu treffen hat, ist das Prinzip der Gewaltenteilung zu beachten, um die institutionelle Unparteilichkeit zu gewährleisten. Aus diesem Grund ist es wichtig, das Berufungsgericht – oder das, was bei der WTO die ständige Berufungsinstanz (‚Appelate Body’) genannt wird – aus einer überwiegend mit Handelsfragen beschäftigten Organisation herauszunehmen. Das gilt umso mehr, als auch nichtstaatliche Akteure wie etwa Konzerne, NGO’s und zwischenstaatliche Organisationen das Recht haben sollten, Beschwerden vorzubringen. In letzter Instanz kann nur ein unabhängiges internationales Gericht mit der Autorität zur Lösung grundsätzlicher Wert- und Interessenskonflikte betraut werden.