Entkopplung

Veröffentlicht als: Santarius, Tilman: Entkopplung. In: Bauriedl, Sybille (Hrsg.): Wörterbuch Klimadebatte. Bielefeld, 2015, 81-86.

Spätestens seit dem Erscheinen des Bestsellers Die Grenzen des Wachstums (Meadows et al. 1972) bewegt eine Frage die Umweltdebatte ganz besonders: ist es möglich, dass der wirtschaftliche Wohlstand – sprich: das Bruttoinlandsprodukt – weiter wächst und zugleich der Verbrauch an natürlichen Ressourcen und die schädlichen Emissionen auf ökologisch nachhaltige Niveaus absinken? Diese ‚Aufspreizung’ zwischen steigendem (monetärem) Wohlstand und sinkendem (materiellen) Naturverbrauch wird als Entkopplung bezeichnet. Sie bildet eine wichtige Prämisse von Konzepten des ‚Green Growth’ bzw. des ‚qualitativen Wachstums’. Doch bei genauerer Betrachtung wird klar, dass sich die Vorstellung von der Entkopplung als eine Hoffnung oder gar ein Mythos entpuppt, der sich in der Realität nach nicht erzielen lassen wird.

Relative versus absolute Entkopplung

Zunächst ist es wichtig, begrifflich zwischen relativer und absoluter Entkopplung zu unterscheiden. Unter relativer Entkopplung wird verstanden, dass sowohl Bruttoinlandsprodukt (BIP) als auch Naturverbrauch weiter anwachsen, aber letzterer immerhin langsamer zunimmt als das BIP. In Deutschland und wenigen anderen Länder kann für einige Bereiche, etwa für den Energieverbrauch oder die CO2-Emissionen, bereits eine relative Entkopplung beobachtet werden. Doch diese reicht nicht mehr aus, um die Verbräuche auf nachhaltige Niveaus zu senken, da insbesondere in den Industrieländern der Naturverbrauch bereits jetzt weit darüber liegt. Nur für die ärmsten Länder des Globalen Südens, denen noch ein Zuwachs an materiellem Naturverbrauch eingeräumt wird, stellt die relative Entkopplung von BIP und Naturverbrauch weiterhin ein legitimes Ziel dar.

Unter absoluter Entkopplung wird verstanden, dass das BIP weiter anwächst, während der Energie- und Ressourcenverbrauch zugleich in absoluten Zahlen zurückgeht. Hierbei ist die zeitliche Dimension von Bedeutung: wie schnell bzw. wie stark kann der Naturverbrauch sinken, wenn die Wirtschaft weiter wächst? Einmal angenommen, in Deutschland würde das BIP in Zukunft um 2% pro Jahr wachsen und die CO2-Emissionen zugleich um 2% pro Jahr abnehmen, würde dies zwar einer absoluten Entkopplung entsprechen und im Vergleich zur Emissionsentwicklung der letzten Jahrzehnte eine große Verbesserung darstellen; aber es würde nicht dazu führen, dass bis zur Mitte des Jahrhunderts die bundesdeutschen Emissionen um die aus Klimaschutzgründen erforderlichen 80% bis 90% zurückgehen. Da bereits über Jahre oder gar Jahrzehnte ökologisch gesehen praktisch ‚über die Verhältnisse’ gelebt wurde und insofern ‚ökologische Schulden’ angehäuft wurden, reicht eine einfache absolute Entkopplung in den meisten Bereichen des Naturverbrauchs heute nicht mehr aus. Vielmehr muss es darum gehen, eine hinreichend starke und rasche absolute Entkopplung zu erzielen.

Die Strategie, bei anhaltendem Wirtschaftswachstum eine hinreichende absolute Reduktion des Naturverbrauchs zu erzielen, wird derzeit vor allem von Befürworter_innen des ‚Green Growth’ bzw. des ‚qualitativen Wachstums’ verfolgt (vgl. Edenhofer et al. 2009; UNEP 2011; OECD 2012). Doch die folgenden Gründe sprechen dafür, dass diese Strategie ihr Ziel verfehlen dürfte: Erstens gehen Effizienzsteigerungen beim Energie- und Ressourcenverbrauch unweigerlich mit Rebound-Effekten einher. Rebound-Effekte bedeuten, dass ein signifikanter Teil der relativen Effizienzgewinne durch neue Nachfragesteigerungen ‚aufgefressen’ wird und einer hinreichenden Entkopplung daher entgegenwirkt (zu Rebound-Effekten > Effizienzrevolution).

Zweitens führt der Trend zur Tertiarisierung der Ökonomien (mehr Jobs im Dienstleistungssektor, weniger dreckige Industrien) in den Ländern des Globalen Nordens bei gleichzeitiger nachholender Entwicklung in den Ländern des Südens dazu, dass die Ressourcenintensität der Importe in vielen Industrieländern seit Jahren ansteigt. Dies bedingt einen sprichwörtlichen ‚Rich Country Illusion-Effekt’: der zunehmende Welthandel und die damit einhergehende Verlagerung der Produktion ins Ausland vertuscht, dass die konsumbasierten Naturverbräuche in den Industrieländern höher ausfallen, als es die territorialen Statistiken suggerieren (Santarius 2009; Becker/Richter 2015). Deutschland beispielsweise hat allein zwischen 1995 und 2005 knapp eine Tonne CO2 pro Kopf ins Ausland verlagert, was bei rund 10 t pro Kopf und Jahr etwa 10% der Emissionen entspricht. Würden diese Emissionen dem Konsum in Deutschland in Rechnung gestellt, hätten sich die konsumbasierten Emissionen in Deutschland in dieser Dekade nicht verringert, sondern wären leicht gestiegen von 12,5 auf 12,8 t CO2/Kopf (vgl. UBA 2008). Im Jahr 2008 waren fast ein Drittel der konsumbasierten Emissionen von Deutschland nicht Teil der offiziellen bundesdeutschen Klimabilanz; der Konsum in der EU insgesamt zeichnet für rund 500 Megatonnen Emissionen verantwortlich, die in den Herkunftsländern von Importen anfallen – eine Größenordnung, die mehr als der Hälfte der gesamten CO2-Emissionen Deutschlands entspricht (Bruckner et al. 2010; Peters et al. 2012). Solange es keine weltweit greifenden Obergrenzen für Emissionen sowie für andere Ressourcenverbräuche (so genannte ‚caps’) gibt – und hiervon ist die internationale Politik derzeit weit entfernt –, wird eine hinreichende absolute Entkopplung daher durch geographische Verlagerung konterkariert.

Beharrungskraft des Naturverbrauchs

Die Vorstellung von der Entkopplung baut ferner auf die Vision einer Kreislaufwirtschaft auf: Wenn größtenteils umweltverträgliche und nachwachsende Rohstoffe Verwendung fänden und überdies in einem Kreislauf zirkulierten, so dass mittels Reuse und Recycling in erster Linie bereits im Wirtschaftskreislauf bestehende Ressourcen genutzt würden, könne bei steigendem Wirtschaftswachstum der Verbrauch von (neuen) Ressourcen in absoluten Zahlen sinken (Braungart/McDonough 2002). Doch trotz eindrücklicher Fallstudien zur praktischen Umsetzung bei einzelnen Rohstoffen in einzelnen Industriezweigen, so etwa in der Aluminiumindustrie, müssen Zweifel angemeldet werden, ob das Konzept der Kreislaufwirtschaft auf gesamtwirtschaftlicher Ebene eine hinreichende absolute Entkopplung gewährleisten kann. Zum einen stellt sich die Frage, ob sich das Konzept auch in komplexen Wertschöpfungsketten, beispielsweise in der High-Tech-Industrie, flächendeckend so durchsetzen lässt, dass es dabei noch ökonomisch rentabel ist – nur dann jedenfalls würde es zugleich zu Wachstum führen. Zum anderen beantwortet das Konzept nicht die Frage, wie energieintensiv eine auf Recylcing und Reuse abgestimmte Wirtschaft (noch) ist, und wie diese Energie ökologisch nachhaltig bereitgestellt werden kann.

Manchen mag die Vision einer zu 100% auf erneuerbaren Energieträgern fußenden Ökonomie eine unendliche Verfügbarkeit von Energie suggerieren – frei nach dem Motto: ‚Die Sonne scheint immer’. Doch Studien zur Nettoenergiebilanz diverser Energieträger, also zum Verhältnis der erforderlichen Energie zur Bereitstellung vis-a-vis der ökonomisch nutzbareren Energie (engl. Energy Return on Energy Invested), zeigen die Grenzen auch von erneuerbaren Energiequellen auf. Vor rund 100 Jahren konnten in der Ölförderung mit einer Einheit Energie-Input bis zu 100 Einheiten Energie-Output erzeugt werden (Verhältnis 1:100). Für Windenergie lag das Verhältnis zu Beginn des 21. Jahrhunderts im Vergleich aller erneuerbaren Energieträger am günstigsten, bei ca. 20:1. Für Photovoltaik lag es zwischen ca. 4:1 bis 10:1; bei der Gewinnung von Ethanol aus Mais bei nur ca. 1,8:1 (Heinberg 2009; Morgan 2013). Auch wenn diese konkreten Berechnungen nur bedingt belastbar sein mögen und überdies der weitere technische Fortschritt die Nettoenergiebilanz erneuerbarer Energien noch verbessern dürfte, wird deutlich, dass auch eine Kreislaufwirtschaft thermodynamischen Grenzen des Wachstums unterliegt. Die Vorstellung eines unendlichen wirtschaftlichen Wachstums hatte offenbar auf dem Zenit der fossilen Industrialisierung eine größere Legitimation, als sie es in einer Wirtschaft haben wird, die auf erneuerbaren Energien fußt.

Neben diesen drei strukturellen Effekten – Rebounds, Rich Country Illusion, Return on Energy – gesellen sich noch weitere Argumente, die eine hinreichende absolute Entkopplung als realpolitisch äußerst schwierig umsetzbar und wohl nur in der Theorie bzw. in Modellen und Szenarien wahrscheinlich erscheinen lassen. So stehen Effizienzrevolution und der Umstieg auf die Kreislaufwirtschaft vor den Herausforderung eines großen Beharrungsvermögens und einem Locked-in bestehender Infrastrukturen, insbesondere im Verkehrs-, Gebäude- und Industriebereich (vgl. Antal/van den Bergh 2014). Beispielsweise geht das Szenario einer Studie des WWF, welches eine 90%ige Reduktion der Treibhausgasemissionen für Deutschland bis zum Jahr 2050 bei weiterem Wirtschaftswachstum für machbar erklärt, im Gebäudebereich von einer Reduktion der Emissionen auf nahezu Null aus (WWF 2010). Doch die vollständige Umrüstung des gesamten Gebäudebestands der Bundesrepublik auf Null- oder Plus-Energiehäuser in weniger als 40 Jahren dürfte aus rechtlichen (z.B. Besitzstandswahrung), habituellen (Heiz- und Lüftungsgewohnheiten) aber auch aus ästhetischen und historischen Gründen (z.B. Denkmalschutz) eine schwer realisierbare Mammutaufgabe zu sein.

Auch der Einfluss bestimmter politischer und wirtschaftlicher Interessengruppen wird eine rasche absolute Reduktion des Ressourcenverbrauchs erschweren. Beispielsweise verfügen transnationale Energiekonzerne über Explorations- und Schürfrechte an Kohle-, Öl- und Gasfeldern, deren Verbrennung zu einer Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre führen wird, die ein Mehrfaches über dem für die Einhaltung des 2-Grad-Ziels zulässigen Niveaus läge (Meinshausen et al. 2009; Johnson 2012). Es wird außerordentliche Anstrengungen erfordern, Politiken und Maßnahmen gegen die ökonomische und wirtschaftliche Macht von Shareholdern und Stakeholdern einzuführen, die in die zukünftige Ausbeutung dieser fossilen Energieressourcen bereits investiert haben und davon profitieren wollen. Zwar muss eingeräumt werden, dass der Übergang in beispielsweise eine Postwachstums-Ökonomie mindestens ebenso große Anstrengungen erfordern dürfte (> Wachstum). In jedem Fall muss in Frage gestellt werden, ob ein rascher absoluter Naturverbrauch durch eine Internalisierung externer Kosten mit technischen Mitteln ins Werk gesetzt werden kann, ohne die bestehenden Kapitalverhältnisse und marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen anzutasten.

Der Preis der Entkopplung

Schließlich vergisst ein Festhalten am Ziel des anhaltenden Wirtschaftswachstums, dass die stetige absolute Reduktion des Naturverbrauchs mit progressiven Kosten einhergehen wird (vgl. Antal/van den Bergh 2014). Effizienz- und Konsistenzsteigerungen werden sich anfänglich zu relativ geringen Kosten realisieren lassen, die jedoch im Zeitverlauf nicht-linear ansteigen, sobald die ‚low hanging fruits’ – beispielsweise kosteneffektive Effizienzsteigerungen – geerntet wurden. Zukünftiger technischer Fortschritt mag zwar die Kosten relativ zu heutigen Erwartungen senken, kann ihre progressive Zunahme aber prinzipiell nicht aufheben. Dies bedeutet, dass eine absolute Entkopplung nicht einfach die gegenwärtige Kopplung umkehren muss und anschließend zum Selbstläufer wird, sondern im Zeitverlauf immer unwahrscheinlicher wird.

Die vorangegangenen Argumente zeigen, dass die Vorstellung der Entkopplung auf unrealistischen Annahmen beruht. In einer Situation, in welcher der ökologische Fußabdruck der Industriezivilisation bereits weit über der Regenerationsfähigkeit der Biosphäre liegt (WWF et al. 2014), ist sie nicht mehr geeignet, eine drastische absolute Reduktion des Naturverbrauchs in einer hinreichend kurzen Zeitspanne zu erzielen. Lediglich als ‚Brückenmytologie’ könnte die Vorstellung der Entkopplung noch vorübergehend fortleben, um politische Weichenstellungen leichter ins Werk zu setzen, so lange das Wachstumsparadigma gesellschaftspolitisch noch dominiert. Wie gezeigt wurde, hat diese Brückenmytologie allerdings einen (ökonomischen) Preis. Und überdies birgt sie die Gefahr, dass eine grundständige sozial-ökologische Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft desto konfliktiver werden könnte, um so später damit begonnen wird.

Aus wissenschaftlich-empirischer Sicht ist die Entkopplungsdebatte daher obsolet geworden. Die langfristige Tragefähigkeit der Biosphäre kann nur gewahrt – bzw. wiederhergestellt – werden, wenn das Volkseinkommen aufhört weiter zu wachsen. Nicht die Frage der Entkopplung, sondern die Frage, wie das Volkseinkommen stabil gehalten oder schrumpfen kann, ist daher die wichtigste und herausforderndste Frage des Nachhaltigkeitsdiskurses.

Literatur

Antal, Miklos / van den Bergh, Jeroen C.J.M. (2014): Green growth and climate change: conceptual and empirical considerations. In: Climate Policy, online: http://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/14693062.2014.992003#.VYqY0qVCfGA (24.06.2015)

Becker, Benjamin / Richter, Caspar (2014): Klimaschutz in Deutschland: Realität oder Rhetorik? In: Momentum Quarterly – Zeitschrift für Sozialen Fortschritt 4(1): 3-22.

Braungart, Michael / McDonough, William (2002): Cradle to Cradle: Remaking the way we make things. New York: North Point

Bruckner, Martin/Polzin, Christine/Giljum, Stefan (2010): Counting CO2-Emissions in a Globalized World. Bonn: Deutsches Institut für Entwicklungspolitik.

Edenhofer, Otmar et al. (2009): The Economics of Decarbonisation. Report of the RECIPE Project. Potsdam: Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung.

Heinberg, Richard (2009): Searching for a Miracle. Net Energy Limits & the Fate of Industrial Society. A Study for the International Forum on Globalization. San Francisco.

Johnson, Victoria (2012): Unburnable Carbon. Rational Investment for Sustainability. London: The New Economics Foundation.

Meinshausen, Malte et al. (2009): Greenhousegas emission targets for limiting global warming to 2 8C. In: Nature 458(7242): 1158-1162.

Morgan, Tim (2013): Perfect Storm. Energy, Finance and the End of Growth. Strategy Insights, Issue nine. London: Tullett Prebon Group.

OECD – Organization for Economic Co-operation and Development (2012): Inclusive Green Growth: For the Future We Want. Paris: OECD.

Peters, Glen P. / Davis, Steven J. / Andrew, R. (2012): A synthesis of carbon in international trade. In: Biogeosciences 9: 3247–3276.

Santarius, Tilman (2009): Klima und Handel. Warum der Klimawandel zu einer Reform des Welthandels zwingt. Bonn: Forum Umwelt & Entwicklung.

UBA – Umweltbundesamt (2008): Grenzsteuerausgleich für Mehrkosten infolge nationaler/europäischer Umweltschutzinstrumente – Gestaltungsmöglichkeiten und WTO-rechtliche Zulässigkeit. www.umweltbundesamt.de/publikationen/grenzsteuerausgleich-fuer-mehrkosten-infolge (24.06.2015)

UNEP – United Nations Environment Programme (2011): Towards a Green Economy: Pathways to Sustainable Development and Poverty Eradication. Nairobi: UNEP.

WWF – World Wildlife Fund (Hrsg.) (2010): Modell Deutschland. Klimaschutz bis 2050. Vom Ziel her denken. Frankfurt: World Wildlife Fund.

WWF – World Wildlife Fund et al. (2014). Living Planet Report 2014. Gland: World Wildlife Fund.