Grünes Wachstum: Der Mythos ist eine Milchmädchenrechnung.

Von Tilman Santarius

Erschienen in: Zeitschrift politische ökologie, September 2012, S. 132-135.

Die Finanz- und Wirtschaftskrise ist zwar schon einige Jahre her und in der öffentlichen Diskussion längst von der Eurokrise überschattet. Doch die Debatte, ob unsere Wirtschaft stetig weiter wachsen und unser Bruttoinlandsprodukt ad infinitum zunehmen könne, sind geblieben. Sie hat auch im Jahr 2012 nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Beim Nachhaltigkeitsgipfel „Rio plus 20“ in Brasilien schwebte die Wachstumsfrage wie ein Damoklesschwert über den politischen Verhandlungen und den unzähligen zivilgesellschaftlichen Diskussionsveranstaltungen: kann es gelingen, mit einem grünen Wachstum, einem green growth, die Ökologie mit der Ökonomie zu versöhnen?

Das wichtigste Argument, mit dem Wirtschaftswachstum ökologieverträglich gestaltet werden soll, lautet Entkoppelung. Die Vorstellung von der Entkoppelung fußt vor allem auf der Idee einer „Effizienzrevolution“: Wenn die Energieeffizienz unseres Kraftwerksparks, unserer Autos, Fernseher, Heizungssysteme, Smartphones drastisch gesteigert wird, dann könne das Volkseinkommen durchaus noch weiter zunehmen; der Naturverbrauch würde dann trotz BIP-Wachstum in absoluten Zahlen deutlich zurückgehen. Tatsächlich bestimmt die Vorstellungen von ‚Effizienz als Sparsamkeit’ seit über 100 Jahren das Denken und Handeln von Politikern, Unternehmerinnen, und Konsumenten. Man hat immer geglaubt, wenn Energie nur effizienter verwendet würde, könne damit auch in absoluten Zahlen Energie eingespart werden. Wie aber lässt sich dann erklären, dass genau jene Industriegesellschaften, die die größten Effizienzsteigerungen seit Menschengedenken erzielt haben, in den letzten 100 Jahren laufend mehr Energie verbraucht haben?

Der Zusammenhang zwischen Effizienz und Wachstum ist kein zufälliger, sondern ein systematischer. Für Ökonomen ist das eigentlich ein Allgemeinplatz: natürlich macht jede Produktivitätssteigerung die Wirtschaft „fitter“ und löst Wachstumsimpulse aus. ‚Arbeitsproduktivität steigern, Kosten sparen, expandieren’ – das ist das täglich Brot von Managern. Doch denkwürdiger Weise wird dieser Zusammenhang in der Diskussion um Energieproduktivität, sprich Energieeffizienz, bis heute vernachlässigt. Namhafte wissenschaftliche Institutionen, wie beispielsweise das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) oder die Internationale Energie Agentur (IEA), gehen in ihren Szenarien und Prognosen davon aus, dass der größte Teil der weltweit erforderlichen Einsparungen von Treibhausgasemissionen über Effizienzsteigerungen erzielt werden könne. Doch sie berücksichtigen nicht, dass Rückkopplungseffekte (Rebound-Effekte) aus den Effizienzsteigerungen eine Zunahme von Produktion und Nachfrage bedingen. Tatsächlich ist die Schlussfolgerung unangenehm: Das Potential der Effizienzsteigerungen wird zum guten Teil durch eine gesteigerte Nachfrage nivelliert – oder im Extremfall sogar überkompensiert. Die Effizienzrevolution wird nicht das halten können, was sie verspricht.

Die Hybris der Effizienzrevolution lässt sich eindrücklich am Beispiel des Hybrid-Autos darstellen. Ohne Zweifel sparen Hybrid-Autos gegenüber herkömmlichen Fahrzeugen Benzin ein. In relativer Hinsicht, pro gefahrenem Kilometer, wird also gespart. Doch geht auch der absolute Verbrauch an Kraftstoff zurück? Vier verschiedene Rebound-Effekte, die sich aus der Effizienzsteigerung eines Hybrid-Autos ergeben können, wirken dagegen. Erstens führt der Wechsel zu verbrauchsärmeren Autos dazu, das Autofahrer weniger Geld für Benzin ausgeben müssen. Das kommt einem realen Einkommenszuwachs gleich. Zwar mag das Hybrid-Auto in der Erstanschaffung teurer sein, doch wenn sich die Investition erst einmal amortisiert hat, kommt es zum vielbeschworenen „Win-Win“. Was machen die Autofahrer mit dem frei gewordenen Kapital? Sie können öfter zum Friseur gehen oder sich einen Zweit- oder Drittwagen zulegen – entsprechend schwankt die Umweltbilanz jenes Konsums, der durch die Einsparungen aus der Effizienzsteigerung des Hybrid-Autos erst möglich wurde.

Sicherlich führt die Effizienzrevolution zur Innovation neuer Geräte und Verfahren. Ohne gleichzeitige „Exnovation“, das heißt ohne den aktiven Ausstieg aus den alten, weniger energiesparenden Waren, ist indessen nicht gesagt, wie stark sich die Gesamtbilanz verbessert. Oft werden neue, effizientere Produkte die herkömmlichen nicht ersetzen, sondern zusätzlich zu ihnen konsumiert. So mögen sich Eltern ein Hybrid-Auto zulegen, ihr konventionelles Fahrzeug aber nicht verschrotten, sondern zur Nutzung an ihre Kinder weiterreichen. Zudem fressen die für die Effizienz-Innovationen benötigte Energie und die Materialien einen Teil des Einsparpotentials bereits vor der Nutzung schon wieder auf. Die Umweltbilanz von rund einer Milliarde konventioneller PKWs heute ist vermutlich noch besser, als es die Umweltbilanz von hypothetischen zwei Milliarden Hybrid-Autos in der Zukunft wäre.

Grüne Produkte gibt’s nicht zum ökkologischen Nulltarif

Effizientere Produkte verändern nicht nur ihre technischen Eigenschaften, sondern häufig auch ihren symbolischen Gehalt. Was einst als schädlich gebrandmarkt wurde, wird nun ökologisch vertretbar. Und dann umso häufiger gekauft. Eine empirische Erhebung in Japan hat zur Überraschung ihrer Forscher gezeigt, dass Autofahrer, die sich nach eigener Wahrnehmung ein „ökologisches“ Hybrid-Auto zugelegt haben, ein Jahr nach dessen Kauf gut 1,6mal mehr Kilometer damit gefahren sind, als mit ihrem herkömmlichen Auto zuvor. Frei nach dem Motto: Warum noch Fahrrad fahren oder den ÖPNV benützen, wo das Auto jetzt öko ist! Zudem zeigen etliche empirische Studien, dass der Konsum ‚ethischer’ Produkte dazu führen kann, dass KonsumentInnen es anschließend für gerechtfertigt halten, an anderer Stelle ‚unethisch’ zu konsumieren. Das dürfte auch für energieeffizientere Produkte gelten. Menschen, die ein Hybrid-Auto erworben haben, könnten es nun für gerechtfertigt erachten, öfter Mal mit dem Billig-Flieger zum Brunchen nach Berlin zu jetten.

Schließlich werden Energieeffizienzsteigerungen in der gesamten Wirtschaft einen Wachstumsschub auslösen. Wie hoch die Summe aller Rebound-Effekte dieses Wachstumsschubs ist, hängt vom Zusammenhang zwischen Energienachfrage und Output ab; mit anderen Worten, wie energie- und materialintensiv die zusätzlich hergestellten Güter und Dienstleistungen sind. Doch auch grüne Produkte sind nicht zum ökologischen Nulltarif zu haben. Man führe sich vor Augen, mit welch unterschiedlichem Aufwand an Ressourcen, Arbeit und Kapital die ersten Autos mit Otto-Motoren gegenüber den Hybrid-Autos von heute gebaut wurden. Die Motorentechnologie der ersten Generation bestand aus wenigen Teilen, die im wesentlichen aus Eisen und Stahl gefertigt wurden, und baute auf verhältnismäßig einfachen Konstruktionsplänen auf, die von einer überschaubaren Zahl an Forschern und Ingenieuren entwickelt wurden. Die Antriebstechnologie eines Hybrid-Autos hingegen ist komplex, vereint zig verschiedene Rohstoffe aus allen Erdteilen, an deren Abbau und Transport zahlreiche Firmen beteiligt sind, und wird von Heerscharen von WissenschaftlerInnen und IngenieurInnen entwickelt, die alle Gehälter beziehen und ihrerseits Konsum tätigen. Kurz: während Hybrid-Autos pro gefahrenem Kilometer energiesparender fahren, geht ihre Herstellung mit multiplen gesamtwirtschaftlichen Rebound-Effekten einher – hierzulande und in jenen Ländern, aus denen die (Zuliefer-) Produkte stammen.

Tatsächlich vollzieht sich seit Jahrzehnten eine schleichende Tertiarisierung der Ökonomien in den Industrieländern bei gleichzeitiger nachholender Entwicklung in den Schwellen- und Entwicklungsländern. Anders als vielfach behauptet liegen die Ursachen hierfür zwar kaum bei erhöhten Umweltstandards in den Industrieländern gegenüber den vielbeschworenen pollution heavens im Süden. Vielmehr liegen sie bei der Globalisierung der Handelsströme und den Kostenvorteilen der internationalen Arbeitsteilung.

Absolute Entkoppelung wäre absolutes Novum

Nichts desto trotz muss die Verlagerung der Produktion in Betracht gezogen werden, wenn die Prophezeiungen der Effizienzrevolution auf den Prüfstand gestellt werden. Denn die Deindustrialisierung des globalen Nordens führt dazu, dass Ressourcengebrauch in Schwellen- und Entwicklungsländer ausgelagert wird und die Ressourcenintensität der Importe steigt. So ist beispielsweise Deutschland eines der wenigen Industrieländer, das seine nationalen Emissionen seit in Kraft Treten des Kyoto-Protokolls verringern konnte, von 10,5 Tonnen 1995 auf 9,7 Tonnen CO2 pro Kopf im Jahr 2005. Allerdings wurden im gleichen Zeitraum rund 1,1 Tonnen CO2 pro Kopf ins Ausland verlagert. Im Ergebnis haben die konsumbezogenen Pro-Kopf-Emissionen auch in Deutschland zugenommen. Es hat keine absolute Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Emissionen stattgefunden. Die Rebound-Effekte der Effizienzsteigerungen lassen sich am luxuriösen Lebensstandard der rund einen Milliarde neuer Konsumenten im globalen Süden ablesen.

Trotz all dieser Einwände ist eine weitere Steigerung der Energieeffizienz ohne Zweifel geboten. Es scheint sogar möglich, dass verstärkte klimapolitische Anstrengungen eine absolute Entkoppelung von Wirtschafswachstum und Naturverbrauch realisieren könnten. Die Gretchenfrage an die Effizienzrevolution ist bloß: wird eine hinreichend starke Entkoppelung gelingen, so dass die einschlägigen Nachhaltigkeitsziele erreicht werden? Mehrere jüngere Studien gehen davon aus, dass die Summe aller Rebound-Effekte auch langfristig zwischen 30% und 50% des Einsparpotentials von Effizienzmaßnahmen aufzehren wird. Daraus folgt: Technologie- und Innovationsoffensiven alleine werden nicht ausreichen, um eine Verminderung der Treibhausgase um 80-90% in den Industrieländern bis zum Jahr 2050 zu erzielen.

Erst wenn das Volkseinkommen aufhört stetig weiter zu wachsen, können Effizienzstrategien einen uneingeschränkt positiven Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten und ihre technisch möglichen Einsparpotentiale realisieren. Es ist eine Milchmädchenrechnung, dass weiteres Wachstum – und sei es noch so grün – dazu führen würde, die Investitionen und der Konsum und folglich auch der Ressourcenverbrauch und die Emissionen gingen in einem Maße zurück, dass Nachhaltigkeitsziele erreicht werden können. Schließlich wird ein Mehr an Volkseinkommen, auch wenn es aus teureren grünen Produkten resultiert, immer ein Mehr an Konsum nach sich ziehen. Denn was drücken die höheren Kosten der grünen Produkte schon aus? Sie drücken aus, dass entweder mehr Humankapital (Wissen) zu ihrer Entwicklung, mehr Arbeitszeit zur Fertigung, oder mehr Aufwand zum Abbau speziell benötigter Rohstoffe fällig wird. In jedem Fall werden mehr ökonomische Transaktionen vorgenommen, die ceteris paribus mehr Unternehmen oder Menschen an der Wertschöpfung dieser Produkte beteiligen und daher hierzulande wie global durch Verlagerungseffekte vielfältige Rebound-Effekte generieren, die einer hinreichenden Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Naturverbrauch entgegenwirken.

Es gibt kein Entrinnen aus der Tatsache, dass reales Wirtschaftswachstum eine Mehrnachfrage nach sich zieht. Wenn die Nachhaltigkeitsziele ernst genommen werden, bleibt nur die Option, den Teufelskreis der Wachstumsspirale zu beenden. Eine Wachstums-Gesellschaft, die eine ‚große Transformation’ zur Nachhaltigkeits-Gesellschaft anstrebt, steht vor der Mammutaufgabe, ihr Wachstum wirkungsvoll zu begrenzen.