Modell für einen gerechten Welthandel. Eine kritische Würdigung des Fairen Handels.

Von Michael Frein und Tilman Santarius

Erschienen als: Frein, Michael/ Santarius, Tilman: Modell für einen gerechten Welthandel. Eine kritische Würdigung des Fairen Handels. In: Brot für die Welt/ Evangelischer Entwicklungsdienst (Hrsg.): Perspektiven im Fairen Handel. Dossier 9, 2009, S. 18-21.

Fairer Kaffee, Schokolade, Kakao und Honig – all das macht die Welt ein Stück gerechter. Aus Sicht verantwortungsbewusster Konsumenten in Industrieländern ist damit klar: Fair gehandelten Produkten gebührt Vorrang. Aber hat der Faire Handel nicht auch Grenzen? Wie viel Kaffee kann man eigentlich trinken? Und wie ist es mit anderen, auch nicht-agrarischen Produkten, etwa Unterhaltungselektronik, Spielzeug oder Haushaltsgeräten? Und: ist der Faire Handel Symbol oder Modell für einen gerechten Welthandel?

Kein Alleskönner …

Zunächst einmal: Ein Alleskönner ist der Faire Handel nicht. Dazu setzt er zu stark auf Agrarprodukte, im Wesentlichen „Kolonialwaren“ wie Kaffee, Tee oder Kakao. Konsumgüter kommen im Fairen Handel im Grunde nicht vor. Dabei ist es durchaus spannend, darüber nachzudenken, wie ein fair gehandelter Computer auszusehen hat. Auch Dienstleistungen sind im Fairen Handel so gut wie außen vor, erste Aktivitäten dazu haben erst in jüngster Zeit eingesetzt, etwa mit Blick auf fairen Tourismus.

Hinzu kommt, dass der Faire Handel nur eine Seite betrachtet: die Importe aus Entwicklungs- in Industrieländer. Allerdings sind aus entwicklungspolitischer Perspektive die Exporte der reichen Länder das schwerwiegendere Problem. Die zunehmende Öffnung der Märkte des Südens durch Auflagen des Internationalen Währungsfonds (IWF), über die Welthandelsorganisation (WTO) und neuerdings durch bilaterale Handelsverträge ist die Ursache dafür, dass viele Unternehmen und landwirtschaftlichen Betriebe, vor allem Kleinbauern, in Entwicklungsländern der überlegenen Konkurrenz aus dem Norden nicht mehr gewachsen sind. Sie verlieren ihre lokalen Absatzmärkte und ihre Arbeitsplätze an die Produzenten aus dem Norden, die mit überlegener Produktivität und (im Agrarbereich mit staatlichen Subventionen) die lokalen Produzenten in Entwicklungsländern vom Markt drängen. Dieses Problem hat der Faire Handel nicht im Blick. Wenn die EU gedumptes Hähnchenfleisch nach Westafrika exportiert, so dass dort die lokalen Geflügelproduzenten ihre Existenzgrundlage verlieren , dann weiß der Faire Handel darauf keine rechte Antwort.

… aber auch kein Nixkönner

Wer den Fairen Handel als Modell für einen gerechten Welthandel sieht, überfordert ihn also. Wer ihn daraufhin allerdings gleich für überflüssig erklärt, tut ihm ebenfalls unrecht. Denn die Idee des fairen Handels enthält verschiedene Grundelemente und -prinzipien, die sich so oder zumindest so ähnlich auch auf einen gerechten Welthandel übertragen lassen.

Da ist zunächst die Erkenntnis, dass kleinere beziehungsweise schwächere Marktteilnehmer besonders gefährdert sind und daher eines besonderen Schutzes bedürfen. So hat der faire Handel insbesondere Kleinbauern im Fokus; damit ergibt sich eine Schnittfläche zu der Forderung, im Kontext eines gerechten Welthandels effektive Schutzmechanismen gegen wettbewerbsstärkere Konkurrenz zu verankern. Dies soll nicht zuletzt ebenfalls Kleinbauern und, damit zusammen hängend, der Ernährungssicherung und der ländlichen Entwicklung zugute kommen.

Darüber hinaus geht es im Fairen Handel natürlich um faire Produktionsbedingungen, sprich: keine ausbeuterische Kinderarbeit, Garantie der grundlegenden Arbeitnehmerrechte wie Organisations- und Versammlungsfreiheit, etc. Auch hier trifft sich der Faire Handel mit Forderungen nach der Stärkung globaler Standards. Allerdings ist der Ansatz unterschiedlich: während sich ein Produkt durch die Einhaltung solcher Standards im Herstellungsprozess für den Fairen Handel qualifiziert, setzt eine kritische Handelspolitik etwas anders an: Zunächst wird das in der Handelspolitik verankerte Prinzip hinterfragt, wonach die Produktionsmethode für den internationalen Warenhandel keine Rolle spielen soll, warum also ein Teppich ohne Kinderarbeit von den Zollbehörden genau so behandelt werden muss wie ein Teppich aus Kinderarbeit. Weitergehender rückt dann die Frage eines Importverbots für Produkte, die den internationalen Menschenrechts- und Umweltstandards nicht entsprechen, ins Blickfeld.

Hier berühren sich die Debatten offenkundig wieder: während aus Sicht des Fairen Handels die Einhaltung entsprechender Standards im Produktionsprozess eine conditio sine qua non darstellt, zielt die Debatte für einen gerechten Welthandel darauf ab, bei Verstößen gegen solche Standards Diskriminierung zu erlauben. Die Suche nach Gründen für diese unterschiedliche Herangehensweise führt vermutlich zu der Erkenntnis, dass eine umfassende Versorgung mit Produkten aus dem Fairen Handel zur Zeit weder leistbar ist noch (angesichts der Forderung nach Stärkung regionalen Wirtschaftens) wünschenswert wäre.

Strikte Gegner derartiger Überlegungen zur Diskriminierung von Produkten, bei deren Herstellung gegen Standards verstoßen wurde, kommen aus Entwicklungsländern, vor allem aus Asien. Keinesfalls nur Regierungen, auch NGOs befürchten, dass die Industrieländer Sozial- und Umweltstandards dazu benutzen könnten, ihre Märkte für Produkte aus Entwicklungsländern abzuschotten. Eine offensive Marktöffnungspolitik der Industrieländer, verbunden mit eher kümmerlichen Anstrengungen, die Produktionskapazitäten der Entwicklungsländer zu stärken, wird in vielen Ländern des Südens nicht als ausgestreckte Hand für Umwelt- und Sozialstandards wahrgenommen.

Bleibt das Kernstück des fairen Handels, der faire Preis. Von Ökonomen gerne belächelt, versteht man darunter einen Preis, der „sowohl die Produktionskosten deckt als auch zur Deckung der Lebenshaltungskosten ausreicht und Spielraum lässt für Gemeinschafts- und Entwicklungsaufgaben der Genossenschaften und Betriebe.“ Der faire Preis ergibt sich daher nicht (oder zumindest nicht in erster Linie) aus dem Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage, sondern aus den – lokal jeweils unterschiedlichen – Kosten für (umweltgerechte) Produktion und Lebenshaltung. Dabei geht es darum, den Produzenten ein menschenwürdiges Leben („decent life“) zu ermöglichen.

Interessanterweise gibt es in der Debatte um einen gerechten Welthandel nicht wirklich ein Pendant zum fairen Preis. Zwar geht es auch hier darum, die Existenzgrundlagen von Menschen zu schützen – der Schutzmechanismus soll jedoch in erster Linie (durch höhere Zollsätze) preisgünstige Importe abwehren, die lokale Produzenten vom Markt drängen. Überlegungen, wie Exportproduzenten vor Ausbeutung geschützt werden können, orientieren sich an der Debatte um Sozialstandards. Dennoch unterscheiden sich die Kernanliegen von Fairem Handel und dem Einsatz für einen gerechten Welthandel kaum: hier wie dort wird ein Kontrapunkt zur aktuellen Handelspolitik gesetzt, der es in erster Linie darum geht, durch ungebremste Liberalisierung und damit Externalisierung sozialer und ökologischer Kosten die Konsumentenpreise zu senken (und die Unternehmensprofite zu erhöhen).

Fairer Handel und gerechter Handel – Zwei Seiten einer Medaille?

Es gibt also durchaus eine Reihe von Berührungspunkten zwischen Fairem Handel und der Arbeit für einen gerechten Welthandel – und sicherlich noch weitere als die, die hier nur angerissen werden können. Insofern kann der Faire Handel in einigen ausgewählten Bereichen auch als Vorbild für einen gerechten Welthandel dienen.

Dies betrifft vor allem die Frage von Sozial- und Umweltstandards im Produktionsprozess. Es kann nicht angehen, dass die internationale Handelspolitik verbietet, ein T-Shirt aus fairer Produktion anders zu behandeln als ein solches, das unter zahlreichen Verstößen gegen elementare Arbeitnehmerrechte und Umweltstandards hergestellt wurde. Zu denken wäre hier an ein Importverbot, zumindest jedoch an unterschiedliche Zoll- oder Mehrwertsteuersätze. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Überlegung, dass anstelle einzelner Produkte sich ganze Unternehmen zertifizieren lassen und damit für eine günstigere Behandlung im internationalen Handel qualifizieren könnten. Konsequent zu Ende gedacht, könnte dies bedeuten, dass nur noch entsprechend zertifizierte Unternehmen eine Lizenz für grenzüberschreitenden Handel erhielten.

Einen interessanten Ansatz hierfür bieten auch die vielfältigen Aktivitäten zur Durchsetzung ökologischer und sozialer Standards für das öffentliche Beschaffungswesen. Staatliche Behörden (aber nicht nur, etwa auch kirchliche Stellen), so die Forderung, sollen ihre Beschaffung entsprechend ausrichten. Derartige Initiativen zeigen in die richtige Richtung; allerdings müssen sie sich fragen lassen, ob sie im Sinne eines gerechten Welthandels nicht zu kurz greifen, wenn sie sich auch im Bereich des öffentlichen Beschaffungswesens auf freiwillige Selbstverpflichten und die Importseite beschränken – und dabei die internationale Handelspolitik, wie die EU sie (wesentlich angetrieben von der deutschen Bundesregierung) zur Zeit betreibt, außen vor lassen.

Dabei geht es zum einen darum, verstärkt Anstrengungen zu unternehmen, freiwillige Selbstverpflichtungen in staatliche Ordnungspolitik zu überführen. Darüber hinaus wäre stärker die Exportseite in den Blick zu nehmen, also den konkreten Versuch der EU, die öffentlichen Beschaffungsmärkte in Entwicklungs- und Schwellenländern zu liberalisieren. Das Ziel ist, neue Märkte für die EU-Exporteure zu erschließen. Soziale, ökologische und entwicklungspolitische Kriterien spielen dabei in der EU-Politik keine Rolle.

Diese Begrenzung des Fairen Handels verweist auf die fundamentale Schwierigkeit, ihn als umfassendes Modell für einen gerechten Welthandel zu begreifen. In den siebziger Jahren, den Kindertagen des Fairen Handels, mag es noch einige Berechtigung dafür gegeben haben, die Importpolitik der Industrieländer als das zentrale entwicklungspolitische Problem des Welthandels zu sehen.

Der Grund dafür liegt auf der Hand: Im alten GATT, dem Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen, waren die Entwicklungsländer außen vor, sie hatten keinerlei Verpflichtungen zur Öffnung ihrer Märkte übernommen. Dies hat sich im Zuge der Globalisierung, durch Auflagen des IWF, die Gründung der WTO und in jüngerer Zeit die bilaterale Handelspolitik, grundlegend geändert. Den Entwicklungsländern wird zunehmend der wirtschaftspolitische Spielraum genommen, um sich vor der überlegenen Konkurrenz aus dem Norden zu schützen. So hat das britische Hilfswerk Christian Aid ausgerechnet, dass Afrika Südlich der Sahara in den letzten zwanzig Jahren durch falsche und vorschnelle Liberalisierung 272 Milliarden US-Dollar eingebüßt hat – ungefähr soviel, wie die Region im gleichen Zeitraum an Entwicklungshilfe erhielt.

Weiterentwicklung und Politisierung

Mit anderen Worten: Bei Anerkennung all seiner Verdienste, auch im Bereich entwicklungspolitischer Bildungsarbeit, kann der Faire Handel nicht als Modell für gerechten Welthandel gelten, weil er eine (wenn nicht: die) aus entwicklungspolitischer Sicht wesentliche Komponente außer Acht lässt: die aggressive Marktöffnungspolitik der Industrieländer (und hier auch der EU und insbesondere Deutschlands), die den Menschen in vielen Ländern die Existenzgrundlage raubt.

Dies anzugehen, erfordert von Seiten des Fairen Handels jedoch eine Politisierung, die im Wesentlichen an zwei Punkten anzusetzen hätte: ein kritisches Nachdenken darüber, ob die Steigerung des Anteils fair gehandelter Produkte tatsächlich als (primäres) Ziel der Arbeit in Deutschland angemessen ist; auch eine Verzehnfachung des Konsums fair gehandelten Kaffees wird wohl nur einen marginalen Beitrag für einen gerechten Welthandel leisten können. Und zweitens wäre anzumahnen, in der Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit stärker die staatliche Handelspolitik, und hier eben auch die Exportseite, kritisch zu thematisieren.

Weiterentwicklung ist also angesagt. Viele Elemente des Fairen Handels zeigen in die richtige Richtung. Allerdings ist eine Politisierung im Sinne einer deutlichen Kritik an den globalen handelspolitischen Strukturen dringend vonnöten, will der Faire Handel nicht Gefahr laufen, eine politische Nische für ein aufgeklärtes Bildungsbürgertum zu bedienen. Dabei mag zu denken geben, dass Fototermine mit Präsentkörben wohlfeil sind, wenn sie die ökonomischen Interessen des Exportweltmeisters im Kern nicht berühren. Mehr noch: Es gilt einer Tendenz entgegenzuwirken, die den Fairen Handel als Modell für die Welthandelspolitik darstellt und so (nolens volens) dazu beiträgt, dass der öffentlichkeitswirksam propagierte faire Preisaufschlag für ein Pfund Import-Kaffee die Kritik an einer exportorientierten Handelspolitik und deren Folgen für die Armutsbekämpfung überdeckt. Dies zu verhindern, ist eine Aufgabe, der sich der Faire Handel in Zukunft stärker wird stellen müssen.